Der tibetische Exil-Präsident Lobsang Sangay weilt zu einem informellen Besuch in der Schweiz und hofft auf Unterstützung vom Bundesrat.
Mit Lobsang Sangay sprach Christof Münger
Herausgegeben von Tages Anzeiger, Schweiz am 31.1.2018
Was führt Sie in die Schweiz?
Es ist ein wunderschönes Land! Ich komme alle zwei bis drei Jahre, ich besuche kein Land häufiger.
Aber Sie sind ja kein Tourist.
Mein Onkel lebte in der Schweiz, und viele Tibeter sind hier. Vor allem aber möchte ich bewusst machen, wie schwierig die Lage in Tibet ist. Seit meinem letzten Besuch hat die Schweiz mit China ein Freihandelsabkommen abgeschlossen. Doch das darf kein Freipass für China sein, wenn es um die Menschenrechte in Tibet geht. Die Schweiz ist neutral und fair, die Demokratie funktioniert, und die Menschenrechte werden hier respektiert.
Wer hat Sie eingeladen?
Meine Beziehung zur Schweiz ist informell, und deshalb habe ich auch nur informelle Treffen. Wir hatten im April 2017 Besuch von einer Delegation des Schweizer Parlaments in Dharamsala, wo sich der Sitz unserer Regierung befindet. Ich werde einige meiner damaligen Gäste wiedersehen.
«In Tibet gibt es ein Überwachungssystem wie in Nordkorea.»
Sie sind seit 2011 Präsident der tibetischen Exilregierung. Hat sich seither die Lage für die Tibeter in Tibet verbessert?
Nein, sie ist schlimmer geworden. Die Säkularisierung ist weit fortgeschritten. Die lokale chinesische Kommunistische Partei – unter der Führung der Zentralregierung – hat Zehntausende inoffizielle Informanten rekrutiert, und das, obwohl bereits viel Militär und Polizei im Land sind. Die Behörden versuchen, ein Klima der Angst herzustellen. Mit diesen bezahlten Teilzeitagenten haben sie ein grosses Überwachungssystem aufgebaut, wie wir es von der Sowjetunion oder von Nordkorea kennen.
Was machen diese inoffiziellen Mitarbeiter?
Sie überwachen ihre Nachbarn. Auf etwa 20 Familien kommt ein informeller Agent. Dabei wird rotiert. Dazu kommt ein Belohnungssystem. Wer über seine Familie oder die Anwohner Informationen weitergibt, erhält Zuwendungen. Oder ein Diplom oder einen neuen Job. Wer nicht mitmacht, bleibt auf der Strecke. Das System ist ausgeklügelt.
Setzen die chinesischen Behörden heutzutage nicht vermehrt auf die digitale Technologie?
Das kommt dazu. Jede Identitätskarte enthält einen Chip mit den biometrischen Daten. An den Checkpoints, und davon gibt es viele, werden die Daten von Computern aufgenommen und ausgewertet. Dazu kommen unzählige Überwachungskameras. Wer viel unterwegs ist, wie etwa die Nomaden, macht sich verdächtig, ein Unruhestifter zu sein.
China hat vergangene Woche das Kloster Larung Gar, ein Zentrum des tibetischen Buddhismus, unter seine Kontrolle gebracht.
Deshalb bin ich hier. Ich reise um die Welt, um solche Vorkommnisse zu erklären. In Larung Gar waren bis Mitte 2016 rund 12 000 Mönche und Nonnen, jetzt sind es noch 5000, die anderen wurden vertrieben. Die Chinesen haben das Kloster aufgeteilt in eine Akademie und ein Kloster. Beide Teile werden von sogenannten demokratischen Komitees geleitet, dem nur Kommunisten aus China angehören, die Atheisten sind. Und diese Komitees entscheiden nun, wer ins Kloster eintreten darf.
Gibt es immer noch Selbstverbrennungen?
Wir appellieren an die Tibeter in Tibet, sich nicht aus Verzweiflung das Leben zu nehmen. Trotzdem kam es seit 2011 zu 151 Selbstverbrennungen. Es hört nicht auf, weil die Unterdrückung systematisch ist. 2017 waren es sechs oder sieben.
Die Selbstverbrennungen rufen zumindest weltweit Tibets Tragödie in Erinnerung.
Die Menschen verbrennen sich nicht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wer sich anzündet, kann unter diesen Umständen nicht weiterleben. In einem Land wie der Schweiz geht man auf die Strasse, protestiert friedlich und geht wieder nach Hause. Wer das in Tibet macht, verschwindet im Gefängnis. Zum Beispiel Tashi Wangchuk. Der Aktivist hat sich dafür eingesetzt, dass nicht nur Chinesisch, sondern auch Tibetisch unterrichtet wird, was Chinas Verfassung erlaubt. Nun drohen ihm 15 Jahre Haft. Deshalb leeren diese verzweifelten Menschen lieber Benzin über ihren Körper und zünden sich an, damit sie schnell sterben und Folter und Haft entgehen.
Aber dann ist es ein öffentlicher Suizid.
Ja, es ist ein Zeichen des Protests. Friedlicher Protest ist fast nicht möglich.
Fordern Sie für Tibet die Unabhängigkeit?
Nein, wir wollen eine Autonomie für das tibetische Volk. Es ist ein Mittelweg. China sagt, seine Souveränität und die territoriale Integrität seien unantastbar. Das respektieren wir, doch wir fordern, dass auch unser Wunsch anerkannt wird. Zumal er konform ist mit Chinas Gesetzen.
Haben Sie Kontakt zur Regierung in Peking?
Keinen formellen. Informell gibt es Begegnungen. Wann immer ein Chinese mit uns reden möchte, wir sind bereit dazu. Ab und zu kommen Journalisten oder Gelehrte. Deshalb appelliere ich an die Schweizer Regierung, im Rahmen ihres Freihandelsabkommens den Chinesen vorzuschlagen, mit den Gesandten des Dalai Lama den Dialog aufzunehmen. Solche Gespräche gab es zwischen 2002 und 2010, wenn auch ohne Durchbruch.
Was ist heute die Rolle des Dalai Lama?
2011 trennte er zwischen der politischen und der religiösen Führung. Er ist immer noch der spirituelle Führer des tibetischen Volks. Mein Kabinett kümmert sich um alle politischen Fragen. Aber ein Wort von ihm hat mehr Macht als eines von mir. Ich habe die Ehre, ihn oft zu treffen. Er weiss sehr viel. Aber seine Ratschläge sind nicht bindend für mich.
Sie kritisieren China hart. Aber Peking hat auch stark investiert in Tibet, man baute Strassen, eine Eisenbahnlinie, Stromleitungen. Fluch oder Segen?
Im Normalfall ein Segen, denn es fördert die Entwicklung. Doch die Investitionen bringen auch mehr Chinesen nach Tibet. Und mehr Maschinen, um die Ressourcen in unseren Bergen zu nutzen. Etwa die Wasserkraft oder das Holz, es werden viele Bäume gefällt. Unter dem Strich verliert Tibet. Die Chinesen sind in den städtischen Gebieten bereits in der Mehrheit, wenn auch nur im Sommer. Im Winter halten sie es nicht aus, weil es zu kalt und zu hoch ist. Dann haben die Tibeter wieder die Mehrheit. Aber in der Hauptstadt Lhasa sind 80 bis 90 Prozent der Geschäfte, Restaurants oder Taxis in chinesischer Hand.
Xi Jinping will aus China die Nummer eins der Welt machen. Was sind die Folgen für Tibet?
Die Folgen betreffen die ganze Welt, nicht nur Tibet. Xi Jinpings Ära soll eine internationale sozialistische Epoche chinesischer Prägung werden. Das heisst: die Herrschaft einer Partei, keine Demokratie. Die Welt hat die Wahl: Entweder verändert die Welt China, oder China verändert die Welt.
Das ist beunruhigend.
Wir müssen vorsichtig sein. Auch die Schweiz wird von China verändert, oder sie verändert China.
Etwas schwierig für ein so kleines Land.
Dann sollte man eine Haltung einnehmen. Die Schweiz und China verdienen Geld dank des Freihandelsabkommens, aber Peking deutlich mehr. Für chinesische Güter ist der Schweizer Markt wichtiger als umgekehrt. Doch beide Länder sind gemäss Abkommen gleich wichtig. Deshalb sollte sich die Schweiz für ihre Werte einsetzen, für die Demokratie und die Menschenrechte. Wenn die Schweiz hier Kompromisse macht, verliert sie ihr gutes Image.
Zeigt die Schweiz zu wenig Haltung?
Tibet ist ein Test für die Schweiz, aber auch für den Rest der Welt und selbst für China. Wenn man bei Tibet mit Kompromissen beginnt, endet das bei einem selbst. Denn man kann nicht für die Demokratie sein, wenn man sich nicht auch in Tibet dafür einsetzt. Man kann nicht für den Dialog, die Diplomatie, die Menschenrechte und gegen Gewalt eintreten und sich nicht gleichzeitig für Tibet einsetzen. Man muss wählen: Entweder man ist für Tibet oder dagegen. Freihandel ist etwas Gutes, vorausgesetzt, es gibt gleichzeitig eine Diskussion über die Demokratie, die Menschenrechte und Tibet.
Werden Sie von der Schweizer Regierung in Bern empfangen?
Kein Kommentar. Aber wir treffen Freunde. Und wenn sie ein gemeinsames Bild auf Facebook stellen, freut uns das.
Hat die Schweiz zu wenig Mut, um Ihre Sache zu unterstützen?
Es ist nicht eine Frage des Mutes, sondern der Prinzipien. Die Schweiz muss sich auf ihre Werte besinnen. Während des Zweiten Weltkriegs verhielt sie sich neutral, das war sehr mutig, da ganz Europa im Krieg war. Die Schweiz ist ein Vorbild. Auch was Tibet betrifft, sollte die Schweiz ein Vorbild sein und sich für die Demokratie einsetzen. Der amerikanische Präsident Barack Obama hat den Dalai Lama 2014 und 2016 getroffen. Beide Male teilten die USA mit, dass sie den von uns vorgeschlagenen Mittelweg unterstützen. Gleichzeitig sprechen die USA mit Staatschef Xi Jinping und setzen sich für die Menschenrechte ein. Das kann die Schweiz auch.
Obama ist nicht mehr Präsident. Donald Trump reiste nach Peking. Er wurde von den Chinesen umgarnt und zeigte sich selber angetan. War das ein Rückschlag für Sie?
Nein, die USA haben ja kürzlich Zölle erhoben auf Solarpanels und Waschmaschinen aus China. Die Beziehung zwischen den USA und China ist komplex. Ausserdem hat das US-Aussenministerium offiziell angekündigt, dass man den Dalai Lama treffen und die Tibet-Frage besprechen werde. Das entspricht der bisherigen US-Tibet-Politik. Nicht alle europäischen Länder sind so konsequent.
Ihre Regierung wird von keiner anderen Regierung anerkannt. Wie können Sie sich trotzdem Gehör verschaffen?
Wir treffen jene, die uns treffen wollen. Wir reden auch mit Medien und Thinktanks. Klassische Lobbyarbeit, aber transparent. Ich sprach auch zu den Tibetern hier, sagte ihnen, sie sollen sich integrieren, die Sprache lernen und der Schweiz dankbar sein. Gleichzeitig sollten sie die tibetische Sprache und Kultur pflegen. Aber ich bitte auch das Schweizervolk, seinen Prinzipien treu zu bleiben.
Glauben Sie, dass Sie Tibet irgendwann sehen?
Da bin ich mir absolut sicher.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 30.01.2018, 20:30 Uhr